Relativ älter werden
Ich staune immer wieder neu über die Wahrnehmung von Tante Ulrike. „Ich muss heute zu...," sagt Tante Ulrike, fingert ihren Kalender heraus, leckt den Zeigefinger an und blättert die heutige Termin-Seite auf. „Frau Soderstorf und Herrn Weis. Alte Menschen sind das, die mich brauchen" fügt sie erklärend hinzu. Tante Ulrike selbst ist 79 Jahre alt. Tante Ulrike geht in das Krankenhaus und in Altenheime. In Seniorenresidenzen und Wohnungen und besonders oft geht sie zu ihrer „alten Cousine". Die ist sogar ein Jahr jünger als Tante Ulrike - wirkt aber in Tante Ulrikes Wahrnehmung älter bis ganz alt. Vielleicht seit dem Oberschenkelhalsbruch oder dem merkbaren Gedächtnisverlust der Cousine, und die Tante Ulrike eben nicht oder noch nicht älter macht. Nun lässt sich über die vielen Tante Ulrikes dieses Kulturkreises unvorstellbar klugreden, sehr oft klugscheißen, viel schreiben- und immer nachdenken. Oder eben auch nicht nachdenken, weil es unangenehme Gefühle machen könnte. Von Verdrängung ist dann die Rede, von „blinden" Flecken und was weiß ich. Oder was weiß ich alles noch nicht. Eine mir besonders sympathische, weil unauffällig lehrreiche wie humorvolle Gefühls- und Denkwelt beschreibt Herbert Alvermann auf seiner regelmäßigen Seite in der AZ (das meiste davon ist besser als die meisten Bücher über Altern aus der gegenwärtigen Professorenschaft). Alles liest Tante Ulrike in der Zeitung, speziell diese Seite von Herrn Alvermann nicht. Heute nun hat mein Missionseifer gegenüber Tante Ulrike mit ihrem Verdrängungseifer ganz plötzlich nachgelassen aufgrund folgender auswärtiger Erfahrung: Ich stehe während einer kurzen Pause der Tagung („Über die Entwicklung der menschlichen Psyche"...!) auf dem Balkon eines Hotels an der Ostsee und probiere ein neues Fernglas aus. Mit Zoom. Wegen des Zooms erwähle ich auf dem gegenüberliegenden Hotelflügel jenes Paar zum Objekt, das dort ebenfalls auf einem Balkon steht. Dies Paar ist ein älteres Paar, so eines, das offenbar keine Tagung besucht, seine Zeit genießt und inzwischen mehr auf andere und Dritte und deren Probleme schaut, als auf sich selbst. Denke ich. Die haben alles: Kinder aus dem Haus, nur zum Vergnügen die Enkel, vermutlich ein sattes Festgeldkonto und Zufriedenheit beim Rückblick (denke ich). Außerdem sehen sie noch relativ gut aus für ihr Alter: Die Frau ist attraktiv - mitsamt den grauen Haaren, und er hat kein bißchen Bauch. Beachtlich (denke ich und sehne mich nach so viel Frieden im menschlichen Leben, wie ich es dort mit dem Zoom im Fernglas sehe). Bis mir die Feststellung dämmert, daß der da drüben - in etwa - meine Altersstufe hat. Dass seine Frau - ohne Zoom - Ähnlichkeit mit Christine hat. Aber es dämmerte mir nur mit Mühe und Tante Ulrike fiel mir siedendheiß ein. Offenbar ist sie nicht nur ein Mensch wie Du. sondern auch wie ich bzw. umgekehrt: Ich werde wie sie. Ich bin auf dem Wege, zu verdrängen. Es ist eine Frage der Zeit, dass ich mir nicht mal mehr etwas mehr dämmern lassen kann. Und alte Menschen besuchen gehe. Statt gleichaltrige. Der Zoom zwang mir diese Erkenntnis auf. Es lebe die Kurzsichtigkeit. Sie hat ihren guten Grund.
29. August 1985